Beim Einarbeiten in einen Cold Case habe ich zu Hause erst eine Chronologie anhand der Verfahrens- und Spurenakte erstellt. Anschließend Bemerkungen gemacht und alles aufgeschrieben, was mir beim Lesen aufgefallen ist und vielleicht zu einer Neubewertung eines Falls führen könnte. Das Schöne war, dass ich alle Zeit hatte, mich voll darauf zu konzentrieren.“
So beschreibt der 63 Jahre alte Franz Wirges seine Vorgehensweise bei der Aufarbeitung nicht gelöster Fälle. Er gehörte zu jenen 28 pensionierten Ermittlern, die seit November 2021 mitgeholfen haben, lang zurückliegende Kapitalverbrechen aufzuklären. Sechs Fälle hat die beim Landeskriminalamt eingerichtete Besondere Aufbauorganisation (BAO) bisher gelöst. Auch den versuchte Mord von Köln-Ehrenfeld aus dem Jahr 1987. Hier hatte der ehemalige Leiter der Mordkommission aus dem Polizeipräsidium Bonn den Anstoß zur erneuten Ermittlung gegeben. Der Täter wurde inzwischen gefasst und vor Gericht gestellt.
„Die Besondere Aufbauorganisation ist Ende April ausgelaufen“, stellt Kriminalhauptkommissar Steffen Franke vom LKA fest. Er gehört zum Team der Operativen Fallanalyse. „Nun geht es mit Schwung in die zweite Phase.“ Der Profiler sieht in 408 Fällen gute Chancen, die Täter noch zur Verantwortung zu ziehen. Angedacht ist, dass die „Senior Experts“ in Zukunft den jeweiligen Kriminalhauptstellen zuarbeiten.
Erfolge versprechen sich die Ermittler auch bei zwei weiteren Fällen aus Köln. Beim sogenannten „Karnevalsmord“ von 1988 wurde in der Innenstadt eine junge Frau „unter massiver Gewalteinwirkung gegen Kopf und Oberkörper“ getötet, berichtet Markus Weber, Leiter der Ermittlungsgruppe Cold Cases in Köln. Inzwischen habe sich ein Zeuge nach Vorstellung des Falls in der ZDF-Sendung Aktenzeichen XY gemeldet und einen früheren Bekannten schwer belastet.
„Öffentlichkeitsarbeit, auch mit Plakaten, ist bei Cold Cases unglaublich wichtig, um noch Zeugen zu finden“, sagt Erster Kriminalhauptkommissar Weber. Er wird von fünf Beamten beim Aufklären von Altfällen unterstützt. Beim Karnevalsmord stehe die Anklageerhebung gegen den Verdächtigen unmittelbar bevor. Auch die Hinweise im Fall eines Mädchens, das in der Domstadt 1991 auf dem Weg von der Lehrstelle nach Hause vergewaltigt und ermordet wurde, haben sich verdichtet. Hier gibt es aktuell eine Reihenuntersuchung, um DNA abzugleichen.
Im PP Bielefeld wurde der Fall „Puls“ von kalt auf heiß gestellt. Eine alte Frau, die am Rande von Vlotho im Kreis Herford lebte, war 2014 in ihrem Haus erstochen worden. Drei Fremdspuren hat man jetzt entdeckt. Eine wurde identifiziert. Der Täter kam in U-Haft und nahm sich dort das Leben.
Pensionär Wirges erzählt, wie hervorragend die Zusammenarbeit mit Markus Weber und seinen Kollegen im Fall von Köln-Ehrenfeld geklappt hat. Ein 50 Jahre alter Frührentner war damals nach einer Zechtour brutal in seiner Wohnung niedergeschlagen worden. Das Opfer, Klaus Dieter M., konnte sich bis zu seinem Tod im Jahr 2013 nie mehr ganz von seiner lebensgefährlichen Hirnverletzung erholen. Der Täter blieb jahrzehntelang unerkannt.
„Das lässt einen nicht ruhen. Nach dem Aktenstudium habe ich mich unter anderem gefragt, ob sich an einem Kegelpokal und an Zigarettenkippen, die sich unter den Asservaten fanden, mit den heutigen Methoden noch etwas finden lässt“, berichtet der agile Ruheständler.
Neue Ermittlungsanläufe führten in der Vergangenheit ins Leere. „Wir haben noch einmal jeden Stein umgedreht“, erklärt MK-Leiter Weber. Alt- Cop Wirges hatte tatsächlich den richtigen Riecher gehabt. Das Kriminaltechnische Institut (KTI) fand am Griff des Pokals eine Fremd-DNA und am Kelchrand das Blut des Opfers. „Der silberne Pott war offensichtlich die Tatwaffe“, resümiert der KTI-Biologe Dr. Dirk Porstendörfer. „Auch an zwei Zigarettenstummeln haftete das DNA-Profil des mutmaßlichen Täters.“
Die Genspur konnte zugeordnet werden. Sie gehörte zu Cemil A. und war bei einer anderen Straftat in der Datenbank abgespeichert worden. Der heute 56-Jährige gestand, das Opfer niedergestreckt zu haben. Weil der andere übergriffig geworden sei, habe er sich wehren müssen, so seine Erklärung, die im Mai zum Freispruch vor Gericht führte. Niedrige Beweggründe seien nicht mehr nachweisbar, begründete der Richter sein Urteil. Und der mögliche Straftatbestand Totschlag ist verjährt. Gegen das Urteil hat die Staatsanwaltschaft Revision eingelegt.
„Vielleicht finden sich ja noch weitere Indizien“, hofft Franz Wirges. Er ist keineswegs entmutigt. „Die Angehörigen wissen nun, was passiert ist, und können ihren Frieden machen.“ Das soll für den engagierten Ex-Polizisten aber noch nicht alles gewesen sein. Auch in Zukunft würde er gern seine Expertise den Behörden zur Verfügung stellen.