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LKD Thomas Jungbluth
„Der Rechtsstaat lässt sich nicht auf der Nase herumtanzen“
Thomas Jungbluth im Interview
Streife-Redaktion

Das Lagebild des Landeskriminalamts NRW zum Thema Clankriminalität ist fertig. Wesentliche Fakten daraus wurden jetzt von NRW-Innenminister Herbert Reul der Öffentlichkeit vorgestellt. Die »Streife« sprach mit Thomas Jungbluth über die Hintergründe des Lagebilds und über die Empfehlungen, die sich daraus für die künftige Arbeit der Polizei NRW ableiten lassen. Jungbluth ist Leitender Kriminaldirektor beim Landeskriminalamt und war federführend mit der Erstellung des Lagebilds befasst.

 

Streife: Seit wann beschäftigt sich das LKA NRW mit diesem Thema?

Jungbluth: Arabisch-libanesisch-türkische Großfamilien sind schon seit ungefähr zehn Jahren ein Thema bei uns. Damals hatten wir die ersten Ermittlungsverfahren im Bereich organisierte Kriminalität. Das geschlossene Auftreten von Clanmitgliedern in der Öffentlichkeit und die ihnen zuzurechnende Delinquenz entwickelte sich in den letzten Jahren zunehmend zum Gegenstand einer öffentlichen Diskussion. Letztendlich führte dies zu einer kriminalpolitischen Schwerpunktsetzung, die sich im Koalitionsvertrag der neuen Landesregierung wiederfindet. Ausfluss dieser Schwerpunktsetzung ist auch die Forderung nach einem Lagebild, das Ausmaß und Qualität dieser Kriminalitätsform offenbart und Ansatzpunkte für polizeiliche Reaktionen darstellt. Wir haben dann Ende 2017 auf die ersten Ergebnisse des Projektes KEEAS (Kriminalitäts- und Einsatzbrennpunkte geprägt durch ethnisch abgeschottete Subkulturen) aufgesattelt. Aus diesen Ergebnissen hatten sich schon erste Familiennamen herauskristallisiert, die für das Phänomen »Clankriminalität« stehen. Diese Namen haben wir mit anderen Bundesländern abgeglichen und insbesondere mit den Experten der NRW-Behörden, die über viel Erfahrung mit Clankriminalität verfügen, gemeinsam überprüft. So sind wir letztlich von zunächst ca. 50 Clans auf knapp über 100 verschiedene Clans gekommen, aus denen heraus einzelne Angehörige polizeilich auffällig geworden sind. Manche mit nur wenigen Straftaten, manche mit sehr vielen. um es abzukürzen: die sehr intensive Befassung seit Anfang 2018 hat zu dem vorliegenden Lagebild geführt. Und die Erkenntnisse aus diesem Lagebild haben dann die aktuell vielfältigen Maßnahmen ausgelöst, die spätestens seit Sommer 2018 konzentriert und koordiniert gegen kriminelle Mitglieder von Clans durchgeführt werden.

 

Streife: Welche Strategie verfolgt das Land NRW bei diesem Thema?

Jungbluth: Das Land NRW hat sich gegenüber den Clans auf eine „Null-Toleranz“-Strategie festgelegt. Bei jeder Ordnungswidrigkeit soll konsequent, aber auch angemessen und verhältnismäßig reagiert werden. Nächtliche Razzien dienen dazu, die Durchsetzungsfähigkeit des Rechtsstaats nach außen zu dokumentieren und intern Erkenntnisse über das agieren der Clanmitglieder zu gewinnen. Diejenigen, die sich scheinbar unangreifbar fühlen, sollen durch diese Maßnahmen dazu gebracht werden, sich künftig an Recht und Gesetz zu halten.

Die Umsetzung dieser Strategie stößt bislang in NRW auf viel positives Feedback: Polizistinnen und Polizisten melden dem LKA zurück, wie sehr sie es begrüßen, dass dieses Thema endlich angegangen wird, mit dem sie an der Basis schon seit längerem zu tun haben. Ich werde polizeiintern oft als Referent zum Thema Clankriminalität eingeladen, so zuletzt bei der Kreispolizeibehörde Recklinghausen. Auch Bürgerinnen und Bürger geben der Polizei NRW bemerkenswert viel positives Feedback zu den Maßnahmen wie etwa den Razzien.

 

Streife: Wo liegt das Problem bei der Erfassung?

Jungbluth: Das liegt zum Beispiel an vielen unterschiedlichen Schreibweisen der Familiennamen. Einige Personen wechseln auch ihre Namen von arabischen zu türkischen Familiennamen. Die Tatverdächtigen kommen aus allen Altersgruppen und sie haben verschiedene Nationalitäten.

 

Streife: Wie kommen Sie zu den Daten über die Tatverdächtigen?

Jungbluth: Wir nutzen die Eingaben zu Tatverdächtigen, die in Nordrhein-Westfalen über die Software IGVP (Integrierte Vorgangsbearbeitung Polizei) erfasst werden. Diese Zahlen haben wir im Lagebild für die Jahre 2016 bis 2018 ausgewertet. In diesem Zusammenhang habe ich eine Bitte an alle Polizistinnen und Polizisten in NRW: Je mehr Daten rund um Clans ins IGVP und zukünftig VIVA eingegeben werden, desto genauer wird unser Lagebild. Das setzt eine hohe Qualität bei der Erfassung der Daten voraus. Wir als LKA sind auf eine detaillierte und genaue Erfassung der Vorgänge angewiesen.

 

Streife: Besonders auffällig ist der hohe Anteil von Frauen bei den erfassten Taten, er liegt bei etwa zwanzig Prozent. Was sind nach Ihrer Ansicht die Gründe dafür?

Jungbluth: Das liegt daran, dass die Frauen genauso wie die Männer alles tun, um die Familienehre zu verteidigen und den Zusammenhalt der Familie nach außen zu dokumentieren, und das um jeden Preis und mit allen Konsequenzen. Eigentlich dachten wir, dass Frauen mäßigend einwirken könnten. Das kann im Einzelfall auch so sein, aber unsere Statistik sagt etwas anderes.

 

Streife: Wären die Frauen nicht auch ein guter Ansatz für Präventionsarbeit?

Jungbluth: Es wird sehr schwer werden und einen langen Atem erfordern, erfolgreiche Präventionsarbeit zu leisten, weil wir uns mit der Mentalität der Menschen, mit einem anderen Verständnis von sozialem Zusammenhalt auseinandersetzen müssen. Das ist eine sehr anspruchsvolle Aufgabe. Auf die Frauen zuzugehen, ist sicher ein guter Ansatz. Diese Arbeit kann die Polizei aber nicht allein leisten. Da ist die gesamte Gesellschaft gefordert, etwa auch die schulen. Und man muss etwa den Jugendlichen auch wirklich einen Grund geben, um auszusteigen. Viele von ihnen besitzen keine gute Schulbildung. Wenn ein Jugendlicher etwa für das Waschen des Autos eines Clanchefs 500 Euro erhält, dann wäscht er lieber mehrmals im Monat das Auto als etwa eine Gärtnerlehre bei der Stadt zu machen. Wenn es der größte Traum von jungen Mädchen ist, einmal ihren Cousin zu heiraten, um die Familienbande zu stärken, dann wird klar, wie schwierig und anspruchsvoll Prävention ist und dass diese Aufgabe nicht von der Polizei gelöst werden kann.

 

Streife: Wo konzentrieren sich denn die Familienclans genau in NRW?

Jungbluth: Die meiste Clankriminalität verzeichnen wir in Essen und den umliegenden Ruhrgebietsstädten, aber auch etwa in Erkrath in der Landratsbehörde Mettmann. Die dortigen Polizeibehörden haben sich der Herausforderung gestellt, um dieser speziellen Form oftmals organisiert begangener Kriminalität mit geeigneten Strategien zu begegnen. Essen hat etwa eine sehr große BAO gebildet. Man muss sehr gezielt andere Partner dazu holen, vor allem die Ordnungsbehörden. Viele kleine Nadelstiche sollen deutlich machen: der Rechtsstaat lässt sich nicht auf der Nase herumtanzen. Wer gegen das Recht verstößt, wird mit den Konsequenzen leben müssen.

 

Streife: Das Thema Clankriminalität wird in der bundesweiten Öffentlichkeit vor allem mit Ereignissen in Berlin in Zusammenhang gebracht und nicht mit NRW – zu Recht?

Jungbluth: In Berlin gab es einige spektakuläre Straftaten, die im Fokus der öffentlichen Berichterstattung standen. Doch die Dimension des Problems ist im bevölkerungsreichsten Bundesland NRW nicht geringer. Für unser Bundesland haben wir diese herausfordernde Lage nun erfasst. Wir haben zahlreiche Veranstaltungen zur Clankriminalität durchgeführt, und es gab bereits viele polizeiinterne Fortbildungsmaßnahmen. Wir sind bereits sehr weit gekommen und arbeiten mit Partnern wie dem Zoll, den Stadtverwaltungen, Ausländer- und Ordnungsämtern oder der Steuerfahndung intensiv zusammen. NRW hat sich zu diesem Thema gut aufgestellt.

 

Streife: Wie ticken denn die Familienclans?

Jungbluth: Clankriminalität hat sehr viel damit zu tun, nach außen hin zu demonstrieren, wer der Stärkere ist. Das Recht des Stärkeren wird in jeder Form und um jeden Preis nach außen hin verteidigt und dokumentiert. Die Menschen glauben, dass sie sich nur auf ihre Familie verlassen können und auf sonst nichts und dass deren Werte über allem stehen, auch über dem Recht des Landes, in dem sie leben. Das haben sie über Jahrhunderte gelernt, denn diese Familien wurden auch in ihren Herkunftsländern nicht anerkannt und waren auch dort nicht in die Gesellschaft integriert. Diese Mentalität kann dazu führen, dass in dem Moment, in dem ein Polizeibeamter ein Verkehrsvergehen ahnden will, eine Telefonkette alarmiert wird und dann sehr schnell sehr viele Menschen zusammenkommen, um das Einschreiten des Beamten zu verhindern. Viele Clanmitglieder wollen zudem zeigen, was sie besitzen. In diesem Zusammenhang ist das Phänomen »Carposing« zu sehen, also das Protzen mit Luxuskarossen, aber auch das Tragen großer Goldketten.

 

Streife: Welche Konsequenzen wird dieses Lagebild denn für die Arbeit der Polizei NRW haben?

Jungbluth: Wir können den Kreispolizeibehörden nun sagen, wie viele kriminell gewordene Clanangehörige und wie viele Mehrfachtatverdächtige sie in ihrem Bereich haben. Die Behörden müssen dann selbst geeignete Maßnahmen entwickeln, mit denen sie darauf reagieren wollen. Dafür muss man wissen, warum diese Menschen so reagieren, wie sie es tun. Muss die Kreispolizeibehörde ihr Einsatzverhalten bei dieser Klientel anpassen? Wie kann sie gezielt gegen die Mehrfachtatverdächtigen vorgehen? Die Lösung, die Essen gefunden hat, muss aber nicht die richtige Lösung für eine Landratsbehörde sein. Deswegen muss jede Kreispolizeibehörde ihren eigenen Weg finden, um dem Stellenwert gerecht zu werden, den das Thema Clankriminalität in ihrem Bereich hat.

 

Streife: Es gab in der Vergangenheit eine Reihe von Razzien, etwa in Essen. Wird die Polizei NRW weitere Razzien dieser Art durchführen?

Jungbluth: Die Razzien haben im Sommer 2018 begonnen. Da wurden sie von Clans nicht wirklich ernst genommen und eher als kurze Episode polizeilicher Reaktion verstanden. Aber diese Razzien werden weitergehen. Das ist in den letzten Monaten trotz der hohen Belastung der Polizei durch andere Aufgaben möglich gewesen. Wer glaubt, dass die Polizei in ihrem Engagement nachlässt, liegt mit Sicherheit falsch. Wir werden den Shisha-Bars und den sonstigen Treffpunkten krimineller Clanangehöriger weiter auf den Füßen stehen. Wenn die Shisha-Bars sich an Recht und Gesetz halten, werden wir dort natürlich nicht mehr kontrollieren.

 

Streife: Sehen Sie denn schon eine Veränderung im Verhalten der Clans?

Jungbluth: Das Verhalten hat sich schon deutlich geändert. Man merkt, dass es wenig Sinn macht, die Polizei zu provozieren, denn dann sind schnell sehr viele Polizisten da. Also passt man sich an. Clanmitglieder beschweren sich gegenüber der Polizei über die Razzien. Doch die Razzien sind ein wichtiges Mittel, um Informationen darüber zu erhalten, wer sich in welchen lokalen aufhält. Je bessere Informationen wir haben, desto eher können wir dann auch Ermittlungsverfahren gegen Mehrfachtatverdächtige führen und gegen die Personen, die in den Familienclans bestimmend sind. Wir rechnen auch damit, dass die Clans ihre kriminellen Geschäfte auf andere Bereiche verlegen, in denen das Entdeckungsrisiko gering ist und größere Gewinne erzielt werden können. Der Umgang mit den Clans erfordert ein ständiges Anpassen der polizeilichen Maßnahmen. Wir müssen immer neu auf die jeweilige Situation reagieren.

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